Gesichtserkennung

Orgel haben Gesichter. Ihre Fassade, der Prospekt, ist Teil der Raumarchitektur und individuell für diesen geschaffen. Jede Epoche hat dabei ihren eigenen Stil. Bis heute in ihrer klaren Gliederung prägend ist die Prospektform der Schnitger-Zeit. Die idealtypische Form dieses „Hamburger Prospekt“ genannten Typus ist an der Orgel der Hauptkirche St. Jacobi zu sehen. Außen finden sich große Türme mit den Pfeifen des Pedalwerks. Dazwischen stehen, übereinander und klar voneinander abgegrenzt, die anderen Teilwerke der Orgel.

Gnadenkirche Lohbrügge: Becker-Orgel – Entwurf B. Hirche/H. Ebert. Fotograf: Michael Kottmeier


Zwar orientieren sich viele Orgelprospekte bis heute an dieser Form. Es geht aber auch ganz anders: In der Gnadenkirche Lohbrügge zum Beispiel steht die Orgel wie eine Skulptur im Altarraum. In der schlanken Klangsäule mit ovalem Grundriss und aufstrebenden Pfeifenwellen bricht sich das Licht der bunten Glasfenster.

In der Ansgarkirche in Langenhorn dagegen gibt es keine sichtbaren Pfeifen. Die Hans-Henny-Jahnn Orgel ist hinter einem Betongitter versteckt. Das Fernwerk der Orgel im Michel steht sogar unsichtbar auf dem Dachboden. Der Klang des Werks gelangt durch einen Schallkanal und eine Rosette in der Kuppel in den Kirchenraum. Er scheint aus der Ferne zu kommen und ist kaum zu orten. 

Winterhalter-Orgel Stellingen (2018). Fotograf: H.-C. Ebert

Wie meistert ein Orgelbauer heute die Herausforderung, ein neues Instrument harmonisch in einen Kirchenraum einzufügen? Wie entwirft man auf dem Boden der Tradition einen erkennbar zeitgenössischen Prospekt? Ein Beispiel dafür ist Hamburgs jüngster Orgelneubau in Stellingen. Der badischen Firma Winterhalter gelang hier ein dem Raum angepasster schlichter, symmetrischer und doch lebhafter Aufbau.

Schematischer Werkaufbau einer Orgel (Hamburger Prospekt)

Text: Hans-Jürgen Wulf  


Headerfoto: H.-C. Ebert