Bach in Hamburg: dumm gelaufen
19 Jahre nach seinem ersten Hamburg-Besuch (Bach in Hamburg: tief beeindruckt) kommt der inzwischen schon recht bekannte Johann Sebastian Bach im November 1720 erneut in die Hansestadt, um sich für die Stelle des Organisten an St. Jacobi zu bewerben. Er ist zu dieser Zeit Hofkapellmeister bei Fürst Leopold von Anhalt-Köthen, wo er eine Verkleinerung der Hofkapelle erleben mußte und im Juli dieses Jahres seine Frau Maria Barbara verloren hat.
Seit 1693 besitzt St. Jacobi eine große Orgel von Arp Schnitger dessen Instrumente Bach ausgesprochen schätzt. Zudem interessiert er sich sehr für das damals einen „Brennpunkt des europäischen Musiklebens“ darstellende Hamburg. Er ist zwar nicht der einzige Bewerber um die begehrte Stelle, aber ganz sicher der begabteste. Unter den drei Kantoren, die als Gutachter über die Eignung der Kandidaten zu entscheiden haben, ist auch der inzwischen 77 Jahre alte Johann Adam Reincken. Zu einem regulären Probespiel Bachs kommt es allerdings erst gar nicht, da er vorzeitig nach Köthen zurückkehren muss. Doch kann Bach innerhalb eines über zweistündigen Konzerts an der Orgel von St. Katharinen fast eine halbe Stunde lang seine ganze Improvisationskunst über den bei Probespielen üblicherweise vorgelegten Choral „An Wasserflüssen Babylon“ beweisen. Reincken ist ergriffen von Bachs Meisterschaft. „Ich dachte, diese Kunst wäre gestorben; ich sehe aber, dass sie in ihnen noch lebet“, sagt Reincken, als er dem Kandidaten anschließend die Hand drückt.
Eigentlich müsste die Bewerbung ein Selbstgänger sein, doch leider steht sie unter keinem guten Stern: Es ist nicht gänzlich auszuschließen, dass Bach hätte 4000 Mark Courant in die Kirchenkasse bezahlen müssen, um die Stelle zu bekommen, dies entsprichtdem heutigen Gegenwert von ungefähr 20.000 Euro. Erdmann Neumeister, Hauptpastor an St. Jacobi, ist angesichts der schnöden Geldforderung so außer sich, dass er von der Kanzel herab schimpfte: „Wenn auch einer von den Bethlehemitischen Engeln vom Himmel käme, der göttlich spielt, und wollte Organist zu St. Jacobi werden, hätte aber kein Geld, so mögte er nur wieder davon fliegen“.
Vielleicht aber hatte Bach auch noch ganz andere Gründe, die Stelle nicht anzutreten. Schaut man sich die Hamburger Verhältnisse der Zeit genauer an, so fällt auf, dass gerade die Jacobi-Stelle – ganz anders als die an St. Katharinen – nicht sonderlich attraktiv war, weder finanziell noch vom Stellenzuschnitt her; lästige Schreiberdienste gehörten zum Dienstalltag eines Organisten. Außerdem gab es in dieser Zeit einen fundamentalen strukturellen Wandel im Hamburger Musikleben, der für Bach auch einen sozialen Abstieg bedeutet hätte. Somit dürfte das Organistenamt an St. Jacobi auf der Suche nach einer neuen Herausforderung keine berufliche Verbesserung für einen ehrgeizigen höfischen Musikdirektor bedeutet haben. Hinzu kam, dass die Schnitger-Orgel in St. Jacobi nicht in gutem Zustand war und die für Bachs harmonisch komplexe Kompositionsweise ungünstige alte mitteltönige Stimmung hatte. Möglicherweise war Bach am Ende also selbst nicht mehr sonderlich interessiert. Für Hamburg dumm gelaufen ist es auf jeden Fall.
Text: Matthias Gretzschel