Schnitger und „die historische Orgel“

Bewahren – einst und jetzt

An Orgeln setzen vielerlei Wandlungen an. Die Kirche definiert jeweils neu, wozu die Orgel dienen soll. Der Musikstil entwickelt sich fort. Auch die gesellschaftlichen Ansprüche an die Orgeln bleiben nicht gleich. Und Orgeln sind komplexe Maschinen; seit dem Spätmittelalter lud dies dazu ein, jeweils zeitgenössische Funktionstechniken auf sie anzuwenden – bis hin zur Computersteuerung.

Nicht zuletzt: Orgeln können sich abnutzen. Bestandsrisiken liegen bei Kirchenbränden, Blitzschlag (mit Orgelpfeifen als Blitzableitern) und Naturkatastrophen. Dass Schnitger-Orgeln erhalten blieben, war insofern kein Selbstläufer.

Bild: Schnitgers Orgeln sind auch technische Denkmale der Frühen Neuzeit. Für alle Pfeifenreihen und -typen ist im Inneren (hier: Pellworm, 1711) eine umfassende Steuerung und deren Planung nötig: Welche Pfeife soll erklingen? Wie gelangt Luft zu den Pfeifen einer optisch ansprechenden Fassade (angeschlossen über „Kondukten“)? Foto: Konrad Küster

Warum blieben Schnitger-Orgeln erhalten?

Immer wieder wird hervorgehoben, dass Schnitgers Instrumente gleichsam für die Ewigkeit gebaut seien: sowohl in der Materialbeschaffenheit als auch in der Verarbeitung. Das gilt allerdings für viele Orgeln norddeutsch-niederländischer Berufskollegen ebenso; erst unter schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen entschieden sich manche jüngere zum Einsatz billigerer Materialien.

Eine Bestandsgarantie für Schnitger-Orgeln erwuchs hingegen aus zweierlei Richtungen. Zuerst: Orgelbau ist konjunkturabhängig – bis heute. Nur wenn Geld vorhanden ist, kann man sich Orgel-Fortentwicklungen leisten oder sich gar von einem älteren Instrument trennen. Warum also kam es nicht dazu?

Der im 18. Jahrhundert zunehmende Zentralismus bewirkte für den nordwestdeutschen Raum, dass die Marschlandschaften in die Peripherie gerückt wurden. Der zunehmenden Strukturschwäche leistete die Entwicklung von Kunstdünger weiteren Vorschub: Einst waren die Marschen wegen ihrer unerschöpflich wirkenden Bodenqualität sehr reich gewesen; nun erwuchs ihnen sogar in Geest- und Heidelandschaften Konkurrenz. An Orgelneubauten wurde immer weniger gedacht.

Die andere bewahrende Aspekt sind die liturgisch-musikalischen Traditionen. Dem neuen, mitteldeutschen Pietismus des frühen 18. Jahrhunderts standen die norddeutschen Territorien überwiegend ablehnend gegenüber; folglich wurde die bisherige Gottesdienstkultur weiter gepflegt, in der auch die solistische Orgelmusik ihren festen Platz hatte. In den reformierten Niederlanden blieb die Liedkultur noch konstanter: Die alten Psalmlieder wurden erst 1773 durch eine Neudichtung des Psalters ersetzt; auch hier entfaltete das Ältere Bestandskraft.

Abbehausen (Butjadingen): Als die Gemeinde 1862 einen Kirchenneubau errichtete, zog Schnitgers Orgel dort noch ein (wurde aber in der Mitte „eingekürzt“). Am Ererbten hielt man noch fest. 1914 jedoch wurde sie durch ein neues Werk ersetzt. Foto: Konrad Küster

Der Namenszug Schnitgers

Der Namenszug „Arp Schnitger Orgelmacher“ mit dem zeittypischen, für die Rechtskraft von Unterschriften wichtigen Kürzel für „manu propria“, „mit eigener Hand“. Foto: wikipedia

Abkehr von den Orgeln Schnitgers und seiner Kollegen

Die Orgel-Klangvorstellungen änderten sich schon im 18. Jahrhundert: Man bevorzugte zunehmend Stimmen gleicher Tonhöhe (8 Fuß), aber unterschiedlicher Klangfarbe, nicht mehr also den Aufbau eines Prinzipalchors (theoretisch über sechs Oktaven zwischen 32 und 1 Fuß). Ferner favorisierte man leisere Orgelklänge als die, die eine Orgel der Schnitger-Zeit hervorbrachte. Doch im nordwestdeutschen Raum führte dies zunächst nur zum Austausch einzelner Register.

Tatsächlich unter Druck geriet Schnitgers Erbe in Deutschland nach der Gründung des Kaiserreiches 1871, zumal in den Gebieten Hannovers und Schleswig-Holsteins, die zwischen 1864 und 1867 preußisch erobert worden waren. Eine straffe Kirchenaufsicht legte fortan fest, wie eine Orgel auszusehen habe, und stülpte dem Gewachsenen eine normierte Unterscheidung zwischen Stadt und Dorf über. Dass es in den Dörfern dieser Regionen auch etwas anderes als eine „schlichte Dorforgel“ geben konnte, hatte in diesem Denken keinen Platz.

Nachhaltige Schäden richtete daraufhin die radikale Fortschrittsgläubigkeit der Zeit an, die sich auf letztlich alles im Inneren der alten Instrumente ausrichtete. Sie wurden radikal entkernt – sofern das Geld dafür vorhanden war.

Frühdigitale Steuerung in Uithuizen: Waagrechte Wellen und senkrechte Abstrakten leiten den Tastendruck durchs Instrument; links und rechts das Gestänge für die Registersteuerung. Diese historische Traktur galt im späten 19. Jahrhundert vielerorts als zu schwergängig. Foto: Konrad Küster

Video aus der Alten Kirche auf Pellworm: Wie funktionierte die Orgel der Schnitger-Zeit?

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Die Ursache „klingender Prospekte“

Im späten 19. Jahrhundert galt eine Orgel als ideal, deren Innenleben nicht mehr mit einem mechanischen Gestänge funktionierte, sondern in der sämtliche Informationen mithilfe von Pneumatik übermittelt wurden – wie in einer Rohrpost mit Druckluft, später mit elektrischer Steuerung dieser Pneumatik. Das Spiel wurde dadurch leichtgängiger, aber zugleich auch unpräziser; den Wartungsaufwand sah man noch nicht ab. Und vielfach schien es, dass man für diese Technik auch moderne Pfeifen benötige.

Unter diesen Bedingungen hatten die Innenkonstruktionen der Orgeln keine Überlebenschance mehr. Doch vom Anblick der alten Orgel wollten sich die Gemeinden (auch die Kunsthistoriker) nicht trennen. Nur aus optischen Gründen behielt man also die Fassaden der alten Instrumente (oft mitsamt den Pfeifen) bei, hinter denen sich dann etwas völlig anderes entfaltete.

In Itzehoe steht hinter dem Prospekt Schnitgers – ohne Verbindung mit diesem – ein Instrument völlig anderer Logik: die 1905 errichtete, mehrfach umgestaltete Orgel von Wilhelm Sauer. Schnitgers rückwärtige Gehäuseteile haben keine Funktion mehr. Foto: Konrad Küster

War Schnitger jemals vergessen?

Schnitger war nie völlig vergessen. Als 1785 in Steinkirchen als Referenzwerk der Kirchengemeinde ein „Lagerbuch“ erstellt wurde, erwähnte man bei der Beschreibung der Orgel voll Stolz auch den Namen Schnitgers. Er stand ebenso 1815 im Verkaufsangebot der Hamburger Johannis-Orgel, die daraufhin nach Cappel gelangte. Noch klarer äußert sich das Schnitger-Bewusstsein beim Oldenburger Orgelbauer Gerhard Janssen Schmid, der nach einer Reparatur der Orgel in Ganderkesee 1820 sogar einen Überblick über Schnitgers Wirken zusammenstellte.

Der Groninger Organist Siwert Meijer publizierte dann 1853 in niederländischer Übersetzung die Werkliste, die Schnitger selbst angelegt hatte – eine Pionierleistung der niederländischen Musikgeschichtsschreibung. Und als der Bach-Biograph Philipp Spitta 1873 Informationen über Bachs Bewerbung auf den Organistenposten der Hamburger Jacobi-Kirche publizierte, machte er weite Teile der Musikwelt mit dem Namen des Erbauers bekannt – auch damit, dass „Arp Schnitker“ darüber hinaus „auch andre Kirchen des Orts mit den Erzeugnissen seiner hervorragenden Geschicklichkeit versehen hatte“. Daraufhin fand Schnitger sogar in einem ersten modernen Musiklexikon Berücksichtigung – auch in alten Pionier-Lexika (Johann Gottfried Walther 1732, Ernst Ludwig Gerber 1814) ist er erwähnt.

Es wirkt wie Ironie des Schicksals, dass gleichzeitig mit dem Vordringen dieser historischen Interessen die blinde Orgel-Erneuerungsbewegung auch noch den nordwestdeutschen Raum erfasste. Dies führte zum (weitgehenden) Verlust nicht nur der Schnitger-Instrumente in Golzwarden, Estebrügge, Itzehoe, Jork und anderen Orten, sondern auch etwa der gotischen Orgel in Garding (Eiderstedt).

Der Schnitger-Artikel in Hugo Riemanns Musiklexikon von 1894: rudimentär, aber gut informiert (nur die Orgel in Frankfurt/Oder stammte nicht von Schnitger). Die Landschaften an der Nordsee lagen noch außerhalb des Betrachtungshorizonts: Was stellte sich Riemann wohl unter „Godswarden“ vor? Foto: Konrad Küster

Orgelbewegung als Neubesinnung

Als ein Schlüsselereignis zu neuen Entwicklungen gilt, dass die beiden jungen Schriftsteller Hans Henny Jahnn und Gottfried Harms in der Hamburger Jacobikirche der Schnitger-Orgel begegneten, nachdem 1917 aus ihr die Prospektpfeifen entnommen worden waren: eigentlich – wegen des hohen Zinngehalts – als Rohstoff für die Militärindustrie, im Endeffekt aber zur Herstellung von Konservendosen.

„Wie ein Totenkopf grinste sie mich an“, umschrieb ihr Organist Karl Mehrkens das Wiedersehen mit der Jacobi-Orgel, als er während eines Urlaubs in der letzten Kriegszeit kurzzeitig in Hamburg war. Jahnn setzte sich daraufhin mit sensationellem Erfolg dafür ein, dass historische Orgeln nicht mehr (als rein liturgische Geräte) jeweils einem „zeitgemäßen“ Update unterzogen wurden, sondern als kulturelles Erbe Beachtung finden konnten.

Dies stieß bei führenden Organisten auf größtmögliche Begeisterung; der Leipziger Thomaskantor Karl Straube, langjähriger Freund Max Regers, baute sein organistisches Stilideal völlig um, so dass fortan die Hamburger Jacobi-Orgel Richtschnur seines Denkens wurde. Andere begegneten den Bemühungen irritiert und ablehnend – nicht allein deshalb, weil letztlich ja nur der Denkmalcharakter neu war, sondern auch weil an der Bewunderung insbesondere der Jacobi-Orgel zuvor niemand ernsthaft gezweifelt hatte.

Die Hamburger Jacobi-Orgel nach der Entnahme der Prospektpfeifen, die Schnitger aus fast reinem Zinn gefertigt hatte. Foto um 1920. Landesbildstelle Hamburg

Historische Person oder „Prinzip“?

„Schnitger“ hat sich im Lauf der Zeit zu einer wertvollen „Marke“ entwickelt. Aber gilt die Bewunderung wirklich der Person und ihrem Werk? Oder ist mit diesem Begriff viel eher die gesamte historische Orgelkultur im Küstenraum vor allem der Niederlande und Deutschlands gemeint?

Wenn das zweite gälte, müsste es Gründe geben, diejenigen Orgeln für weniger wichtig zu halten, an denen Schnitger nie gearbeitet hat. Dafür gibt es keinerlei Gründe: Die unschätzbar wertvollen Orgeln in Krewerd, Rysum, Osteel, Pakens oder Tellingstedt sind nicht „Vorläufer“ von Schnitger. Ebenso wenig lassen sich die Orgeln von Appingedam, Altenbruch oder Lunden nur daran messen, wie weit sie in einer Schnitger-Nachfolge stehen. Und es wäre missverständlich, „Schnitger“ zu sagen, aber „Orgelbaukunst des Nordseeraums“ zu meinen.

Diese Kunsttradition lässt sich folglich nicht auf Schnitger komprimieren, so wichtig sein Werk in ihr ist. Neben der Bewunderung für ihn muss auch Platz für all die anderen sein, die – jeweils auf eigene Weise – am Aufbau dieser herausragenden Orgellandschaft mitgearbeitet haben.

Als Schnitger 1679 in Hamburg den Bauauftrag für die „Cappeler“ Orgel aushandelte, wurde die Orgel für Møgeltønder (Südwestdänemark) von einem anonymen Hamburger Meister erbaut. Sie hat mit Schnitger nichts zu tun: Die bedeutende Geschichte des Orgelbaus im Nordseeraum ist größer als er. Foto: Konrad Küster

Klangbeispiel: Heinrich Scheidemann, Vater unser im Himmelreich. Hilger Kespohl an der Orgel in Møgeltønder


Die Schnitger-Orgel und das Meer

Die meisten Orgeln, die sich noch heute mehr oder weniger auf Schnitgers Arbeiten zurückführen lassen (klanglich oder optisch), stehen in Dörfern oder einst dörflich geprägten Siedlungen (34 von 47) – davon 27 in Regionen, deren Bodenniveau kaum über (oder gar unter) Meereshöhe liegt. Zu ihnen gehören auch so „sensible“ Schnitger-Orte wie Uithuizen, Cappel, Lüdingworth, Steinkirchen, Neuenfelde und Pellworm.

Hinter der Erbauung von Schnitgers Orgel in der Alten Kirche auf Pellworm standen weite Bevölkerungskreise: auch Bewohner der Halligen Norder- und Süderoog sind darunter, ferner die „Deichrichter“ (hier „TeichR:“). Originale Stiftertafel von 1711. Foto: Konrad Küster

Die Risiken waren den meisten Orgelbauern bewusst: schon darin, dass die verwendeten Werkstoffe Seeklima aushalten müssen. Noch mehr Risiken hatten die Orgel-Auftraggeber im Blick: Sie waren zugleich für den Hochwasserschutz ihres Ortes verantwortlich; und nicht zuletzt waren die Siedlungen sämtlich auf künstlichen Erhebungen (Warft, Wurt, Warf, Wierde) angelegt worden, ebenso am Geestrand oder auf alten Düneninseln. Und die Kirchen stehen jeweils am höchsten Punkt des Ortes.

Die mittlere Scheitelhöhe der Deiche (7–9 Meter über Normalhöhennull) liegt mittlerweile höher als das Fußbodenniveau der Kirchen, in denen diese Nordsee-Orgeln Schnitgers stehen. Kurz: Ihr Fortbestand wird vom Klimawandel bedroht. Die Orgeln lassen sich nicht dadurch retten, dass man sie birgt: Man löste sie aus den Kirchen heraus, für die sie entstanden sind, ebenso aus ihre Umgebung, die ihr Entstehen einst ermöglichte. So verbindet sich mit der Nordsee-Orgelkultur, deren berühmtester Vertreter Schnitger ist, ein eindringlicher Appell zum Klimaschutz.

Orgelkultur in unmittelbarer Nähe zum Außendeich: Die Pellwormer Alte Kirche. Rechts im Hintergrund die Hallig Süderoog, wo ebenfalls Stifter der Schnitger-Orgel wohnten. Foto: Konrad Küster

 

 

 

 

 


Königsbüll: Das Orgel-Menetekel der Nordseeküste

Im Herbst 1634 wütete eine Sturmflut an der Nordseeküste; besonders hart traf es die Insel Alt-Nordstrand. Über 6000 ihrer Einwohner kamen in den Fluten ums Leben.

Das Wasser zog sich zurück; das Land konnte noch auf Jahre hinaus notdürftig bewirtschaftet werden. Doch kleinere Stürme fraßen sich weiter ins Land vor. Schließlich entschloss man sich, die Siedlungen aufzugeben.

Bewegliches Gut wurde geborgen, darunter die Orgel des Dorfes Königsbüll. Erst 1639 begutachtete sie der Pellwormer Organist Johannes Gudeknecht. Sie wurde eingelagert und gelangte 1729 nach Niebüll. Die Kirche muss die Fluten überragt haben; die Orgel hatte (auf einer Empore) keine Schäden davongetragen.

Königsbüll wurde aufgegeben, weil die Wohnbevölkerung den Deichschutz nicht mehr selbst gewährleisten konnte („Wer nicht deichen will, muss weichen“). Die Überlebenden mussten ihre Heimat verlassen; mit den natürlichen Lebensgrundlagen war auch die von ihnen geschaffene Kultur zerstört worden.

Blick von Nordstrand auf Nordstrandischmoor (rechts) und Pellworm (links). Zwischen beiden lag der Ort Königsbüll, der nach der Sturmflut 1634 aufgegeben wurde; die Orgel wurde geborgen. Foto: Konrad Küster