Metropolen, Marschen und mehr
Auftraggeber und ihre Wünsche
Im späten Mittelalter waren Orgeln das akustische Prunkstück kirchlicher Zentren und reicher Kaufmannskirchen. Anders an der Nordsee: Aus Hamburg, Bremen, Groningen und Amsterdam drang die Orgelbegeisterung zeitgleich auch in die Dörfer der extrem wohlhabenden Marschlandschaften. Das Wechselspiel, das sich daraus ergab, trug noch 200 Jahre später das Schaffen Schnitgers; es bot zugleich die Grundlage für seine internationale Ausstrahlung.
Der Traditionsraum Schnitgers: Hansestadt – Marschenland
Schnitger wirkte von alten Orgelbauzentren aus: von Hamburg, Bremen und Groningen. Schon für den machtvollen Klang der spätmittelalterlichen Orgel hatten sich dort die vorreformatorischen Kaufmanns-Gemeinden begeistert, dann für sämtliche Verfeinerungen, die die Orgel zu einem modernen Instrument machten: mit frühdigitaler Steuerung eines reich differenzierbaren Klangs.
Doch die Städte standen nicht allein. Auch ihr Musikleben funktionierte in dauerndem Austausch mit dem agrarischen Umland: Die Nahrungsmittellieferanten der Städte, die in den weitgehend autonomen Marschlandschaften wohnten, fühlten sich den städtischen Kaufleuten ebenbürtig und teilten daher deren kulturelle Interessen. Grenzen wurden allenfalls dadurch gesetzt, dass sich in den kleineren, niedrigeren Gebäuden vieler Dorfkirchen keine so großen Instrumente unterbringen ließen wie in der Stadt. Doch die Musik selbst sollte darunter nicht leiden. Das verschaffte nicht zuletzt den Orgelbauern der Metropolen volle Auftragsbücher: Die Städte allein hätten nicht dauerhaft Beschäftigung gewährleisten können. Von diesen alten Traditionen, die sich in Stadt und Land über Jahrhunderte hinweg als gemeinsame Orgelkultur aufgebaut hatten, hat auch Schnitger in seinem Wirken profitiert.
Video zur Orgelkultur der Marschengebiete
Orgeln der Marschen: 200 Jahre vor Schnitgers Geburt
Schon um 1450 gab es in den Dörfern der an der Nordsee erste Orgeln.
Nachweisbar ist das für die Zeit schon um 1440, und zwar in Ostfriesland: in Marienhafe (1439, nicht erhalten) und Rysum (vor 1442, erhalten als Umbau der Zeit um 1513). Die Rysumer Dorfbewohner bezahlten ihre Orgel so, wie die Städter es von ihnen gewohnt waren: Eine Herde Rinder wurde über die Emsmündung nach Groningen verschifft.
Ostfriesland stand darin nicht allein: Für 1457 wird von einer Orgel in Lunden (Dithmarschen) berichtet – ebenfalls in der Kirche einer agrarischen Gemeinde, nicht also in einer Wallfahrts- oder Klosterkirche.
Orgeln der Marschen: 100 Jahre vor Schnitgers Geburt
100 Jahre vor Schnitgers Geburt, vor 1550, gab es Orgeln auch auf Föhr (Nieblum) und Pellworm, in Eiderstedt (Garding und Oldenswort) und Hadeln (Altenbruch), in Oldenburg (Blexen, Jade) und dem Jeverland (Tettens) sowie besonders zahlreich im westlichen Ostfriesland, im Groninger Land sowie in Friesland (Fryslân, Niederlande). Im nördlichen Dithmarschen hatte damals sogar schon jede der dörflichen „Mutterkirchen“ eine Orgel.
Soweit man weiß, ging keiner ihrer Spieler einem Nebenberuf als Lehrer oder Küster nach. Sie waren zumeist einzig und allein Organisten; nur in Dithmarschen hatten sie weitere Aufgaben – in der dörflichen Verwaltung.
Orgeln der Marschen: 50 Jahre vor Schnitgers Geburt
50 Jahre vor Schnitgers Geburt wird diese „älteste Orgellandschaft der Welt“ in all ihren Konturen greifbar. Um 1590 sind zwischen Ijsselmeer und Nordfriesland (einschließlich der Flussmarschen) rund 160 Orgeln nachweisbar, sämtlich in kleinen Dorfkirchen, in jeder auf örtlich eigene Weise bis heute fortentwickelt. Nicht selten sieht man in der flachen Agrarlandschaft auf einen Blick mehrere Kirchen, in denen traditionsreiche Instrumente stehen. Schon um 1580 betrug der geringste Abstand zwischen zweien von ihnen gerade einmal 900 Meter: im Alten Land zwischen Borstel und Jork.
Erst wenige Jahre vor der Geburt Schnitgers gelingt es den dörflichen Gemeinden in seiner Oldenburger Heimat, Anschluss an diese Kulturform zu finden – nach Überwindung schwerster Sturmflutfolgen des frühen 16. Jahrhunderts.
Regionen und Instrumentengrößen
Als ganz junger Handwerker baute Schnitger die kleinste Orgel seines Œuvres: Ab 1679 erklang in Bülkau ein einmanualiges Instrument mit nur sechs Registern. Von ihm sind nur Teile des Gehäuses erhalten geblieben, weil sich die Gemeinde langfristig etwas Repräsentativeres wünschte. Nur drei Jahre später begann Schnitger am größten Instrument zu arbeiten, das er je baute: für die (1842 abgebrannte) Hamburger Hauptkirche St. Nikolai. Es hatte vier Manuale plus Pedal und 67 Register.
Diese „Bandbreite“ hat das Schaffen Schnitgers dauerhaft geprägt. Gegen Ende seines Lebens sind die „großen“ Orgeln ein wenig kleiner: für den alten Hamburger „Michel“ (1715, 52 Register) und für Itzehoe (45 Register, 1720 postum vollendet durch seinen Gesellen Lambert Daniel Kastens). Doch in Osternburg bei Oldenburg entstand vermutlich auch noch ein Instrument des Bülkauer Zuschnitts.
Zwischen den Größenangaben liegt also keine künstlerische Entwicklung; sie vollzog sich im Inneren der Instrumente und in deren klanglicher Konzeption. Wer hingegen in der Orgelgröße ein pauschales Stadt-Land-Gefälle erwartet, darf sich in manchen Dorfkirchen von Stadtähnlichem überraschen lassen; und die Klänge auch der kleinsten Instrumente sind faszinierend. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den einzelnen Regionen; dies erfordert eine differenzierte Betrachtung.
Die Kleinsten: Im Groninger Land
Eine Reihe von kleinsten Orgeln (1 Manual, oft mit „angehängtem Pedal“ und maximal 10 Registern) entstand in Dörfern der Provinz Groningen; in Mensingeweer, Nieuw Scheemda, Harkstede und Eenum haben sie die Zeiten überdauert, ebenso (später verändert) in Godlinze. Dass sie erhalten blieben, heißt: Die Instrumente erfüllten dauerhaft ihren Zweck. Das war in Bülkau, Osternburg und Twielenfleth (Altes Land) nicht der Fall.
Video aus Nieuw Scheemda (auch mit Bildern anderer niederländischer Schnitger-Orgeln)
https://www.youtube.com/watch?v=pE8WF5mGZGU
Oldenburgische Dorfkirchen
Kaum größer (12–18 Register, in der Regel zweimanualig mit angehängtem Pedal) waren ursprünglich Schnitger-Orgeln für einige oldenburgische Dörfer; in Dedesdorf und Ganderkesee wurden sie später um „freie“ Pedalwerke erweitert. Diese Orgeln hatten typischerweise kein Rückpositiv; die Ausnahme davon findet sich im reformierten Accum (Prospekt erhalten), und auch in Eckwarden hatte Schnitger mit einem solchen Instrument zu tun (dort schon von Berendt Hus gebaut).
Video aus Ganderkesee
Städtische Nebenkirchen
Der nächste Gruppe bilden die Schnitger-Orgeln städtischer Nebenkirchen.
Die kleinsten von ihnen waren ebenso groß wie in den kleineren oldenburgischen Dörfern und standen in Kirchen von Diaspora-Gemeinden: in der Reformierten Kirche des lutherischen Altona (heute in Blankenhagen/Mecklenburg) und in der Lutherischen Kirche des reformierten Leeuwarden (nicht erhalten). Bei beiden handelte es sich um vergleichsweise große Brüstungsorgeln.
Die eigentliche Gruppe kleinerer Stadtorgeln hat 20 Register oder etwas mehr. Neben den beiden „Gasthuis“-Orgeln aus Groningen (Pelstergasthuis sowie heute Peize) gehören hierzu die des Hamburger Waisenhauses (heute Grasberg) sowie der Gertrudskirche, ebenso – mit 24 Registern – die Orgel der Berliner Kirche St. Sebastian (beide nicht erhalten).
Doch solche Orgeln baute Schnitger auch „im Dorf“: mit gleichfalls 24 Registern auf Pellworm, in Hollern (Altes Land) und – als größte oldenburgische Dorfkirche – in Abbehausen. Die Orgeln im Charlottenburger Schloss und in der Magdeburger Heilig-Geist-Kirche (26 bzw. 27 Register) waren nur geringfügig größer.
Video aus Hollern (Altes Land)
Das Alte Land: ein städtischer Maßstab
Mit 28–35 Registern reich bestückt sind die großen „Dorforgeln“, wie sie vor allem im Alte Land zu finden sind. Steinkirchen ist die kleinste (kein Rückpositiv), Jork war die größte – in denselben Dimensionen wie Lüdingworth (beide dreimanualig).
Zwischen diesen Eckpunkten liegen zweimanualige Instrumente, auch in anderen Regionen und ohnehin in höchst unterschiedlicher Gestaltung: mit 34 Registern in Neuenfelde, mit einst 30 in Ochsenwerder und auch in Estebrügge (die Registerzahl 34 ist umstritten). Um welche stadtähnliche Größe es hier geht, machen die bewunderte Orgel der Groninger Aa-Kerk (32 Register) und die einstige Hamburger Johannis-Orgel in Cappel (30 Register) deutlich. Mit 28 Registern reiht sich hier auch die Orgel in Uithuizen ein: die größte Schnitger-Orgel eines Groninger Dorfes.
Gerade Orgeln dieser Gruppe machten Schnitger um 1950 weltberühmt: mit Tonaufnahmen von Orgelwerken Bachs, die in Cappel und Steinkirchen eingespielt wurden.
Audio aus Cappel: Bachs „Orgelbüchlein“ (BWV 599–644), aufgenommen 1950/52
https://www.youtube.com/watch?v=a7BAfwAu_hs
Städtische Großorgeln
Einst schloss diese Gruppe mit mehreren bemerkenswerten Instrumenten direkt an die vorige an: mit untergegangenen Orgeln in Buxtehude (36 Register) sowie Berlin und Magdeburg (dort je 37 Register). Von ihnen übrig geblieben ist nur diejenige in Sneek: mit dem Prospekt und versprengten Originalpfeifen der einst 36 Register.
„Nur“ 39 Register zählte die Groninger Martini-Orgel zu Schnitgers Zeit; schon wenig später schlug sein Sohn Franz Caspar den Weg ein, der zu ihrer heutigen Größe (52 Register) führte. Zwischen diesen Eckwerten steht als kleinste dieser Großorgeln diejenige, die schon von Schnitgers Lehrer Hus für Stade konzipiert wurde (42 Register; St. Cosmae et Damiani), ein wenig größer ist das Instrument in Norden (46 Register). Davon setzt sich die Orgel der Hamburger Jacobikirche (60 Register) ab.
Zu dieser Gruppe gehörten einst auch (allesamt nicht erhalten) die Orgeln im Bremer Dom und in der alten Hamburger Michaeliskirche (50 bzw. 52 Register), ferner – mit Abstand – diejenige der Magdeburger Johanniskirche (62 Register) sowie – alle übertreffend – die 67 Register der Hamburger Nikolaiorgel.