Hamburger Orgelsommer in St. Michaelis: Henry Fairs
Johannes Brahms: Präludium und Fuge a-Moll WoO 9
Johannes Brahms: »Herzlich tut mich erfreuen« aus op. 122
Carl Philipp Emanuel Bach: »Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ« BWV Anh. 73
Johann Gottfried Müthel: Fantasia F-Dur
Robert Schumann: aus: Studien für den Pedalflügel op. 56
Edward Elgar: Sonata G-Dur op. 28
Mitte der 1840er Jahre litt Robert Schumann unter einer Lebens- und Schaffenskrise und war von schweren Depressionen heimgesucht. Studien des „Wohltemperierten Klaviers“ und der „Kunst der Fuge“ seines erklärten Vorbilds Johann Sebastian Bach sind Schumanns „täglich Brod“ und helfen ihm in der schwierigen Phase. Im Jahr 1845 findet sich jene denkwürdige Notiz in Schumanns Tagebuch, dass sich „eine ganz andere Art zu componiren zu entwickeln begonnen“ habe und die Werke nun nicht mehr am „subjektiven Clavier“ entstünden, sondern er von nun an „alles im Kopf zu erfinden und ausarbeiten“ wolle. Ein gänzlich anderer Kompositionsprozess also, in den sich sein op. 56 sinnvoll einfügt. Die „Studien“ übertitelten Werke sind in Wahrheit lyrische Preziosen, die zwar für den Pedalflügel konzipiert wurden, aber auch auf der Orgel wundervoll klingen.
Schumann steckte auch den jungen Johannes Brahms mit seiner Bach-Begeisterung an. Präludium und Fuge in a-Moll stammen aus der Zeit, in der Brahms im Haus der Schumanns ein und aus ging und sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür, wie eigenwillig er die alten Formen mit seiner hochexpressiven Klangsprache verschmilzt. Die Choralvorspiele op. 122 sind dagegen kurz vor Brahms‘ Tod entstanden. Er bearbeitet darin vornehmlich Choräle, die sich mit den letzten Dingen befassen. Brahms nimmt sich dabei die schlichten Choralvorspiele aus Bachs Orgelbüchlein zum Vorbild.
Auch der zweitälteste Bachsohn Carl Philipp Emanuel beschäftigte sich immer wieder mit dem Werk seines Vaters. Das bekannte schlichte Choralvorspiel „Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“ aus dem „Orgelbüchlein“ des Vaters erweitert der Sohn durch expressive Vor- und Zwischenspiele und verstärkt dadurch erheblich den Affekt.
Auch Johann Gottfried Müthel ist eng mit dem Namen Johann Sebastian Bach verbunden. Er stammte aus Mölln, wo sein Vater als Organist tätig war und wurde einer der letzten Schüler Bachs, in dessen Haushalt er auch wohnte. Auch wenn Bach bereits drei Monate nach seinem Eintreffen verstarb, konnte sich Müthel als Kopist des schon erblindeten Meisters intensiv mit dessen Schaffen auseinandersetzen. Mit Carl Philipp Emanuel Bach verband ihn eine lebenslange Brieffreundschaft.
Müthel gilt als ein Hauptvertreter des „Sturm und Drang“ in der Musik. Es gelang ihm dabei, einen neuen, expressiven Persönlichkeitsstil zu entwickeln. Daniel Schubart bezeichnete seine Musik als „dunkel, finster, eigensinnig und unbeugsam gegen den Modegeschmack seiner Zeitgenossen.“ Und über seine Spieltechnik: „Kenner, die ihn spielen hörten, können nicht genug die Leichtigkeit bewundern, mit der er sich über Gebirge von Schwierigkeiten hinwegsetzt.“
Edward Elgar ist heute vor allem als Komponist prachtvoller romantischer Orchestermusik bekannt, gleichwohl war auch er ein großer Verehrer Bachs. Er orchestrierte unter anderem einige von Bachs Orgelwerken auf so ungemein originelle Weise für großes Orchester, dass auch heutige Bach-Puristen ihre Freude daran haben können.
In seiner Orgelsonate finden sich allerdings kaum Spuren barocker Vorbilder. Vielmehr ist das Werk ausgesprochen orchestral konzipiert und nutzt dabei die Möglichkeiten der spätromantischen symphonischen Orgel effektvoll. Die Sonate entstand 1895 als Auftrag von Hugh Blair, Kathedralorganist von Worcester, kurz bevor Elgar seinen Durchbruch als Komponist der „Enigma-Variationen“ hatte. Es ist ein raffiniertes Werk von großzügigen Proportionen, weitgreifend, aber ohne Längen, wunderbar volltönend und hervorragend adaptiert für das Instrument Orgel.
Der erste Satz, in Sonatenform konzipiert, eröffnet mit einem festlichen, noblen, typischen Elgar-Thema im ¾ -Takt. Das zweite Thema ist kontrastierend dazu melodisch ausschwingend nach Art eines „Lied ohne Worte“. Kunstvoll dialogisieren nun beide Themen miteinander.
Der zweite Satz „Intermezzo“ ist vermutlich die Umarbeitung eines früher entstandenen Werkes für Cello und Klavier. Die sonore Melodie in der linken Hand kontrastiert dabei mit den aparten Girlanden der rechten Hand.
Der ausdrucksstarke dritte Satz weist auf die langsamen Sätze des Violinkonzerts und der Sinfonien voraus und ist von großer Poesie und Klangschönheit. Der letzte Satz ist wiederum in der Sonatenform konzipiert. Ein energiegeladenes Hauptthema und Passagen lyrischen Charakters wechseln sich effektvoll ab, bevor das Werk einem virtuosen Ende entgegenstürmt.
Jörg Endebrock
Henry Fairs wurde in Hereford (GB) geboren, dort erhielt er seine früheste musikalische Ausbildung als Chorsänger am Leominster Priory und studierte am Birmingham Conservatoire, wo er mit den höchsten Auszeichnungen abschloss. Ein Stipendium der Countess of Munster Trust ermöglichte ihm ein Aufbaustudium in Paris, Köln und Wien. Prägende Lehrer waren David Saint, Thierry Mechler, Susan Landale, David Sanger und Michael Radulescu.
Neben seinem Wirken als Lehrer betreibt Henry Fairs eine rege Konzerttätigkeit, die ihn zu Festivals und Instrumenten in aller Welt führt. Fairs ist ebenso regelmäßig als Jurymitglied bei internationalen Orgelwettbewerben tätig. Studierende seiner Orgelklasse gingen als Preisträger aus zahlreichen internationalen Wettbewerben hervor und wirken nun auf bedeutenden Stellen in Kirche und Hochschule.
Henry Fairs ist mehrfacher Preisträger internationaler Orgelwettbewerbe: u. a. in Odense (DK), Chartres (FR), St Albans (GB) und Paris (FR). Zahlreiche Aufnahmen für den Rundfunk liegen vor.
Von 2005 bis 2020 wirkte Henry Fairs am „Royal Birmingham Conservatoire“ (GB), 2018-2020 war er zudem Gastprofessor an der Musikhochschule Leipzig. Seit 2014 ist er als „Visiting Professor“ an der University of St Andrews (Schottland) tätig. Seit dem Wintersemester 2020/2021 ist Henry Fairs Professor für künstlerisches Orgelspiel an der Universität der Künste Berlin.